Ein Bericht aus der umkämpften Stadt Charkiv
Wo ist meine Kanzel heute?
Der 58. Tag des Krieges. Die Stadt wird immer mehr zu einer Ruine. Auf den Friedhöfen kommen immer wieder neue Gräber hinzu.
Inmitten all dieser Ereignisse möchte ich wissen, was ich heute tun soll. Wo soll ich dienen? Wo werde ich am meisten gebraucht?
Die Kanzeln, die in verschiedenster Weise genutzt wurden, sind nun leer.
Es ist so wichtig in dieser zerstörten Stadt die Stimme Gottes zu hören und zu verstehen.
Wenn ich das Maß der Zerstörung neben dem Bethaus sehe, kann ich nicht in Ruhe meine Predigt vorbereiten, stattdessen bin ich den Eindrücken, verschiedenen Emotionen und mentalem Stress ausgesetzt. „Herr! Was, Wo, Wem und Wie soll ich heute predigen?“ Ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der nach Antworten auf derartige Fragen sucht. Es gibt viele aufrichtige Kinder Gottes, die sich danach sehnen, an dem Ort, an dem sie sind, von Gott gebraucht zu werden. Im Erleben dieser Zerstörung fühlt man sich absolut hilflos und als ein erbärmlicher Tröster. „Gott, warum bin ich hier? Hast du immer noch einen Plan, etwas in den Herzen der Menschen zu bewirken, die diesen Albtraum überlebt haben?“
Was können wir Olga aus Charkiw sagen, die die Hand ihres 15-jährigen Sohnes Artem hält, der bei einem Überraschungsangriff ums Leben kam?
Vielleicht hält sich jemand für einen großen Prediger und weiß, was er in solchen Fällen sagen soll? Ich weiß es nicht. Ich weine. Ich bin still. Immer öfter frage ich mich: “Was soll ich in dieser Situation, in diesem Moment tun?”
John Wesley, der oft als “Prediger zu Pferd” bezeichnet wird und 250.000 Meilen zurücklegte, sagte oft: „Ich betrachtete die ganze Welt als meine Gemeinde“. Er ergriff immer eine Gelegenheit auf der Straße, in einer Gastwirtschaft oder an einer Schmiede, wenn sein Pferd ein Hufeisen verloren hatte, über Christus zu sprechen. Dieser Gedanke kam mir, dass dort, wo sich ein Gläubiger befindet, auch seine Kanzel ist.
Hier gebe ich einem Kind einen Apfel und flüstere: “Gott liebt dich, Gott segne dich!” Das Kind fragt lächelnd, da er eine Portion Hoffnung bekommen hat: „Wann kommen Sie wieder hierher in den Untergrund?“ „Wenn Gott es segnet, dann morgen. Bete, dass alles gut wird!“ Es ist die einfachste Predigt für das Kind.
Und hier ist eine besondere Predigt, die Tausende von Menschen erreicht, gehalten von den Schwestern, die hart arbeiten. Sie haben 2.120 Päckchen mit je einem Gewicht von 5-7 kg vorbereitet. In jedem Päckchen befindet sich der Psalm 91 (in der russischen Bibel ist es der Psalm 90), eine Visitenkarte der Gemeinde und ein evangelistisches Buch. Jedes Päckchen wird unter Gebet für den Empfänger gepackt.
Im Durchschnitt reicht ein Set für 2-3 Personen. Dies ist ihre Kanzel, ihr Dienst, ihre Predigt. Wenn ich die Empfänger der Pakete ansehe, freue ich mich nicht nur über die abgegebenen Lebensmittel, sondern auch darüber, dass das Wort Gottes zu den Menschen kommt.
Inmitten der Explosionen, der Zerstörung, unter der herrschenden Angst und dem Schrecken wird das Wort Gottes viele Male und auf viele Arten gepredigt: zu Passanten auf der Straße, oder in der U-Bahn und in Luftschutzbunkern.
Unsere Predigt besteht nicht nur in Form der Essenspakete, sondern jede gute Tat soll von Gottes Liebe sprechen. Wir sind nicht berühmt, aber wir werden erkannt. Sie versuchen eine passenden Titel für uns zu finden: „Heiliger Vater Leonid“, „Vater Vitaly“, „Freiwillige/Volontäre“, „Rotes Kreuz“, „Humanitäre Hilfe“, „Sozialamt“, „Charkiwer Engel“, usw. Egal, wie schön das alles klingt, wir sagen immer, dass wir von der Gemeinde sind und dass es gläubige Menschen aus der Christen-Baptistengemeinde vorbereiten. Manchmal überfordert es die Menschen, aber oft erfahren wir im Gegenteil mehr Vertrauen und Offenheit. Wir können mit den Menschen über Gottes Liebe sprechen. Es ist eine schöne und gute Kanzel. „Bitte Gott segne diesen Dienst!“
Es gibt Kanzeln, wo man spricht und das Wort liest und es gibt Kanzeln, wo man etwas tut.
Einmal fuhr ich an eine Kreuzung, als ich plötzlich einem Panzer frontal gegenüberstand. Der Panzerfahrer hatte mit dieser “Begegnung” überhaupt nicht gerechnet. Wir haben beide gebremst und sind ausgestiegen. Der Panzerfahrer war sehr geschockt: „Was machen Sie hier?“ Ich antwortete, dass ich eine alte Dame aus einem völlig zerstörten Viertel rausfahre. Nicht jeder Prediger ist bereit, diese Predigt zu halten. Auch in der schrecklichen Zeit wird der Name Gottes verherrlicht.
In dieser Zeit erfahren wir sehr wertvolle gegenseitige Unterstützung. Der Herr hat es so geführt, dass wir viele Anrufe aus verschiedenen Ländern von Kindern Gottes, denen wir nicht gleichgültig sind, bekommen. Wir erhalten viele Spenden, um den Bedürftigen und Leidenden zu helfen. Gott allein weiß, wie viel die Kinder Gottes gespendet haben und das nicht nur für die Not in der Ukraine. Dies ist ebenfalls eine wunderbare Predigt, ein wunderbarer Dienst und hat eine sehr gute Auswirkung.
An einem frühen Morgen, inmitten der Explosionen, kamen Freunde zu uns, um mit uns zu beten, um uns zu sagen, dass sie uns lieben und um uns für ein paar Tage zur Erholung einzuladen. Die Gefühle, die an diesem Morgen mein Herz erfüllten, lassen sich nicht in Worte fassen. Einfach zum Beten zu kommen – das ist Kraft! Zu kommen, um einige Bibelverse zu lesen – das ist der größte Dienst! Möge Gott die sichtbaren und unsichtbaren Prediger dieser Zeit belohnen.
Es ist unmöglich, alle „Prediger“ dieser Zeit aufzuzählen, die Tag und Nacht arbeiten und große Mengen an Lebensmitteln, Kleidern, Hygieneartikeln und vielem mehr an die Orte bringen, wo der Krieg wütet und Verwüstung, Armut und Hunger gebracht hat. Die Menschen tun alles dafür, um zu überleben. Sie brauchen nicht nur Lebensmittel, sondern auch Wasser, Streichhölzer und zumindest eine kurze Ruhepause. An diesen Orten sind unsere Fahrer die Prediger. Durch sie erhalten die Menschen vieles von Streichhölzern bis hin zu fertigen Gerichten und Gebäck.
Die langen Fahrten werden eilig und unter Lebensgefahr unternommen. Auch durch diesen Dienst wird unser großer Gott verherrlicht!!!
Bei einer solchen Fahrt kam unser Fahrer in ein Gebiet, welches gerade unter Beschuss stand. Auf der rechten Seite des Kontrollpunktes lagen alle Soldaten hinter Betonblöcken. Unser Fahrer konnte nirgendwo hin. Zu alldem regnete es und das Auto war voll mit Lebensmittelpaketen. Es blieb dem Fahrer nichts anderes übrig, als alle Pakete an der Bushaltestelle auszuladen. Dies geschah unter dem Pfeifen der Granaten. Sonst war kein Mensch zu sehen, die Stadt ist ausgelöscht.
Nicht umsonst werden solche Prediger “Charkower Engel” genannt. Sie dienen Gott ohne Helm, ohne kugelsichere Weste, ganz auf die Gnade Gottes vertrauend. All das ist möglich, weil Tausende gottesfürchtige Menschen auf der ganzen Welt für uns beten.
Oft fahren wir in die Gebiete, auf deren Straßen die Autoreifen durch herumliegende Teile kaputtgehen können. Wir mussten schon mehr als ein Rad wechseln. Doch trotz allem fahren wir in diese Gebiete, um zu predigen, nicht so sehr mit Worten, sondern mit Taten. Ja, wir haben Angst und unsere Nerven liegen oftmals blank. Doch wenn wir das Ziel erreicht haben und die vielen Zuhörer sehen, ist es das Risiko wert.
Das sind die durstigen Seelen. Sie hören heute anders zu als früher. Sie hören zu und stellen Fragen. Beim letzten Gottesdienst waren 40 Menschen anwesend. Durch einen besonderen Plan, den ich nicht verstehe, hat Gott die Kanzel an einen sehr gefährlichen Ort gestellt. Ich habe Angst, ich fürchte mich, und ich möchte so schnell wie möglich diesen Gefahren entkommen. Doch Gottes Plan ist im Moment anders.
Bitte betet für uns, dass wir ihm treu bleiben und ihm weiter dienen. Dass ich treu das Wort Gottes predige und das sogar auf der unbequemsten Kanzel, auf dem Trittbrett des Sprinters.
Trotz der Bomben blüht der Aprikosenbaum. Er erinnert uns an Ostern, an die Auferstehung Jesu Christi, an den großen Sieg und daran, wie traurig es ist, dass es Menschen gibt, die Leben töten, zerstören und Todesangst verbreiten. Trotzdem regiert das Leben. Auch wenn sehr zaghaft und unter dem Schutt verborgen. „Wie ein Spross aus trockener Erde“. Doch eines Tages wird die Ewigkeit die Herrlichkeit Gottes und die Treue seiner Kinder offenbaren.
Betet weiter, liebe Freunde, für uns. Eure Gebete werden sehr, sehr dringend gebraucht. Ihr kennt zwar nicht alle Antworten auf eure Gebete, aber es gibt sie. Wenn ihr diese Informationen gelesen habt, steht auf und betet für die Kinder Gottes, die in schwierigen Verhältnissen leben. Betet für die, die sich nach ihren Verwandten und geliebten Menschen sehnen, die sich um sich selbst und ihre Mitmenschen Sorgen machen. Betet für die Menschen, die sich abends voll Furcht zu Bett legen und nachts nicht schlafen können.
Wir sind dem Herrn und Euch von Herzen dankbar, dass Ihr uns liebt und wir alle Kinder desselben himmlischen Vaters sind!
22.04.2022
Leonid Tkatschew
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