Ein Bericht aus der umkämpften Stadt Charkiv
Eine weitere Woche des Krieges liegt hinter uns. Mehr als ein Dutzend Wohn- und Nutzgebäude wurden zerstört. Tausende Menschen starben und noch viel mehr Menschen verloren ihre Häuser und Wohnungen, aus denen sie evakuiert wurden, wer weiß, wohin und zu wem. Die Spuren des Krieges bleiben in ihren Herzen.
Das Leben der Menschen wurde von einem großen oder kleinen Stück Metall stillgelegt. Für den, der überlebt hat, ist eine neue Zeit angebrochen. Dies ist sehr schmerzhaft, die Tränen fließen und das Klagen hört auch im zweiten Monat des Krieges nicht auf. Die Suche nach Trost und Geborgenheit beansprucht das Herz der Menschen.
Es scheint, dass nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Welt aufmerksam zusieht und auf ein Wunder wartet. Statt eines Wunders explodieren Granaten, weinen Kinder und alte Menschen leiden. Eine Welt, in der wir noch nie gelebt haben; eine Welt, die du zu verstehen versuchst; eine Welt, die dir jeden Frieden geraubt hat und in der du leben, dich selbst und deinen Platz finden musst. Ein ungebetener Mitbewohner – die Angst – hat sich eingenistet und macht sich immer wieder bemerkbar. Kein noch so gutes Zureden, auszuziehen, hat irgendeine Wirkung auf diesen Mitbewohner. Es ist Krieg. Man sieht seine Spuren auf Schritt und Tritt. Manchmal scheint es wie im Traum, aber man wacht schnell wieder auf, wenn eine weitere Druckwelle das Auto anhält und es mit aller Kraft durchschüttelt. Das, was wir zur Zeit erleben, erinnert uns an die Worte des Apostels Jakobus:
“Denn was ist euer Leben? Es ist doch nur ein Dunst, der eine kleine Zeit sichtbar ist; danach aber verschwindet er.” Jakobus 4,14
Die kleine Gemeindegruppe, die sich täglich im Bethaus trifft, hat sich entschieden, ihren Nächsten und dem Herrn zu dienen.
Alles geschieht blitzschnell. Bei der Verteilung der Lebensmittelpakete an die Empfänger geriet unser Fahrzeug heute unter Beschuss. In diesem Moment bleibt keine Zeit zum Beten, keine Zeit, um an die Familie zu denken, nicht einmal, um ein paar Worte an die eigene Frau zu richten, die neben einem sitzt. Im Bruchteil einer Sekunde ist die Windschutzscheibe weg, das Dach hat eine große Delle und andere kleinere Schäden, aber man ist froh, dass das eigene Leben erhalten geblieben ist und eine arme alte Frau ihr Lebensmittelpaket erhalten hat. Man hat überlebt und in dieser Situation wird es das Wichtigste. Es ist viel schlimmer, wenn der Kühlschrank voll ist, wenn es eine funktionsfähige Mikrowelle und einen Lebensmittelvorrat gibt, aber niemand da ist, der das alles aufbrauchen würde.
Was soll die Gemeinde in dieser grausame und boshaften Zeit tun? Wie und wohin soll das Volk Gottes gehen, wo es doch keinen Ort gibt, wohin es gehen kann? In eine Ecke kriechen und vor Angst kauernd dasitzen? Sollen sie murren und sich über alles Mögliche beschweren? Oder gibt es einen anderen Weg, der dem Herrn Ehre, den Menschen Nutzen und der Seele eines Christen Zufriedenheit bringt?
Jeden Tag bereitet die Gemeinde bis zu hundert Lebensmittelpakete vor, die von den Brüdern an verschiedene Empfänger in unserer Großstadt Charkiw geliefert werden. Jedes Lebensmittelpaket wiegt 5-7 kg. Das bedeutet, dass jeden Tag 500-700 kg durch die Hände unserer Freunde gehen.
Innerhalb von dreißig Tagen hat eine kleine Gruppe von Mitarbeitern 1.360 Pakete vorbereitet und verteilt. Das sind fast 10 Tonnen, die an die Einwohner von Charkiw verteilt wurden. Es gibt so viele kranke, ältere, bettlägerige und einsame Menschen in der Stadt. Manchmal müssen die Pakete bis in den 9. Stock getragen werden, weil es keinen funktionierenden Aufzug gibt.
Jeden Tag erhalten wir über hundert Hilferufe. Das Telefon muss mehrmals am Tag aufgeladen werden. Neulich rief eine alte Dame an und weinte: “Helft mir! Hört mir zu! Ich bin einsam. Ich bin um 6 Uhr morgens zur humanitären Hilfe gegangen und stand dort bis 10 Uhr. Ich dachte schon, ich würde in Ohnmacht fallen. Schließlich gaben sie mir ein Päckchen Fertigsuppe. Weinend taumelte ich nach Hause. Ein Polizist traf mich vor dem Haus und fragte mich: ‘Gute Frau, warum weinst du?’ Ich erzählte ihm von meinen Problemen. Er sagte: ‘Mach dir keine Sorgen, ich gebe dir die Telefonnummer von guten Leuten, die werden dir bestimmt helfen.’ Und so rufe ich die Nummer an, die er mir gegeben hat. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber durch seine Worte habe ich die Hoffnung, dass Sie mir helfen werden.” Das ist die Art und Weise, wie wir unseren Dienst verrichten.
– Fast täglich werden die Menschen in den U-Bahn-Stationen mit einer warmen Mahlzeit besucht. Die nun Obdachlosen sind sehr dankbar und geben gerne Komplimente: “Euer Essen ist sehr gut!”
– Um diesen Dienst tun zu können, muss eine kleine Anzahl von Brüdern regelmäßig die Autos entladen, die mit Lebensmitteln bei uns ankommen, und die dann neu gepackten Pakete verladen. Wir sind den Brüdern, die uns beliefern, von ganzem Herzen dankbar.
– In unserer Umgebung gibt es viele Gemeinden, die unter Lebensmittelknappheit leiden. Einer unserer Dienste besteht darin, ihnen mit unserem kleinen Anhänger Hilfe zu bringen. Auch wenn dies immer mit großem Risiko verbunden ist. Doch wenn man die freudigen Gesichter der Geschwister sieht, wird einem klar, dass dies der beste Dienst in dieser Zeit ist.
– Neulich halfen wir bei der Evakuierung eines Verwaltungsgebäude mit. Die einst geordnete Struktur des Gebäudes glich nun einer Ruine, die durch ein Stück Eisen zerstört worden war.
Ein großartiges Zeugnis für die Menschen war das Engagement unserer Brüder bei der Beseitigung des Schutts, beim Verladen, beim Abtransport und vielem mehr. Es ist erstaunlich, wie Gott seine Gemeinde, seine Kinder, gebraucht, um den Wohlgeruch des Glaubens und das Wort zu verbreiten.
Nach einem arbeitsreichen Tag freut sich das Herz über den Dienst, den Gott uns tun lässt. Es freut sich darüber, dass Gott das Leben eines jeden von uns verschont hat. Aber die Müdigkeit macht sich bemerkbar und am Abend sind die Helfer völlig erschöpft, sowohl von der körperlichen als auch von der psychischen Belastung. Denn wegen der ständigen Explosionen, der dadurch zitternden Hauswände und wegen der Anspannung, woher die nächste Explosion kommen wird, kommen wir nicht richtig zur Ruhe. Am Morgen sind wir müde und unausgeschlafen. Doch wenn man weiß, dass Menschen auf einen warten, die Essen und Medikamente brauchen, kann man es sich nicht leisten, einfach weg zu bleiben. Der nächste Tag beginnt wie der vorherige Tag.
In dieser schlimmen Zeit wird mir folgende Frage am meisten gestellt: „Wann wird das alles enden?“
Wie sehr möchte ich in dieser Zeit eine enge Beziehung zu Gott haben, seine Stimme hören und wissen, was er unter diesen Umständen von mir erwartet und wie ich für den Herrn ein nützliches Gefäß bleiben kann. Damit ich Worte des Trostes und der Ermutigung finde. Nicht nur für Ungläubige, sondern auch für meinen Nächsten, der meine Schritte und Gedanken beobachtet: ob ich nicht ins Wanken gerate, oder ob ich auf meinem Weg zögere.
Werde ich weiter in der Lage sein, mich selbst und andere zu versorgen? Darum sorge ich mich von ganzem Herzen vor dem Herrn und bete zu ihm, damit ich Ihm wohlgefällig sei.
Liebe Geschwister und Freunde, die diese Informationen lesen, ich bitte euch, dass ihr uns im Gebet unterstützt. Ich danke euch herzlich für jegliche Beteiligung und Unterstützung! Obwohl der Krieg Narben in unseren Herzen hinterlässt, wissen wir, dass wir mit Gottes Hilfe eine bleibende Spur in den Herzen der Menschen, die er uns anvertraut hat, hinterlassen. Möge Gott uns dabei helfen.
Herzliche Grüße Leonid Tkatschew
Charkiw 09 April 2022
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