Ein Bericht aus Charkiw
Nicht verheilte Wunden
„Und er nahm sie zu sich in jener Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen…“ Apg. 16,33
Liebe Leserin, lieber Leser, Sie halten eine weitere Informationsausgabe in den Händen. Diese wurde zu einer Zeit geschrieben, als in verschiedenen Medien und in persönlichen Kontakten über den Erfolg der Streitkräfte der Ukraine und die Befreiung von Dutzenden von Siedlungen berichtet wurde. Diese Botschaften haben natürlich Hoffnung und Freude geweckt. Das Thema, welches ich mit Ihnen teilen möchte, ist in den Hintergrund getreten:
Nicht verheilte Wunden
„und er ging zu ihm hin, verband ihm die Wunden und goss Öl darauf…“
Lukas 10,34
Es gibt ganz unterschiedliche Wunden: oberflächliche, tiefe, geheilte, eiternde, verbundene und offene. Alle Bewohner der Städte, die wieder unter ukrainischer Kontrolle sind, tragen den Schmerz tiefer, nicht verheilter Wunden.
Wer kann in die Seelen dieser Menschen hineinschauen und ein Heilmittel gegen die Wunden des Krieges bieten? Freundliche Worte und Lebensmittelpakete ernten kaum ein Lächeln. Der Kummer hat die Menschen überwältigt. Der Verlust von Häusern, Verwandten und Freunden – das ist der Schmerz ihrer Herzen. Ihre Wunden bluten …
Der bevorstehende Winter stellt die Menschen vor erneuten Fragen der Unterkunft und Suche nach Schutz vor Kälte, Regen und Schnee. Woher bekommen wir ein solches „Öl“, welches wir auf die offenen Wunden gießen können? Die großen Erfolge an der Front trösten den Verstand, aber das Herz und die Seele leiden weiter. Auch die Häuser und Straßen sind weiterhin zerstört.
Einst wurde hier das Leben geboren, Pläne wurden geschmiedet, die Menschen lebten in Frieden und Behaglichkeit. Die dicken Mauern der Häuser waren eine Garantie für Wohlbefinden, Schutz und Sicherheit. Doch durch den Krieg kam Zerstörung und Tod.
Von diesem Schrecken „ist meine Wunde so unheilbar, dass sie die Heilung verweigert“ Jeremia 15,18
Unser Dienst umfasst die Stadtgrenzen, die umliegenden Gebiete der Region und die besetzten Gebiete und überall treffen wir auf tiefe Wunden.
Die Menschen stellen sich darauf ein, mit den Folgen des Krieges zu leben. Sie versuchen, den Schmerz über die Verluste zu betäuben und sich an die neuen Umstände anzupassen. Sie versuchen zu überleben.
Die früher genutzte Zentralheizung wird nun durch einen Ofen ersetzt. Die Fenster, die die Sonnenstrahlen hineinließen, werden zugemauert, um die Wärme im Raum einzufangen. Statt Glasscheiben wird Zellophanfolie verwendet. Not macht erfinderisch. So machte jemand aus einem Wasserkocher eine „Mikrowelle“, um wenigstens etwas Heißes zu sich zu nehmen. Welche Gedanken beschäftigen so einen Menschen, der vor einem solchen Gerät sitzt? Als wir uns dieser Person mit einem Lebensmittelpaket näherten, wurden wir von ihr mit Tränen in den Augen begrüßt. Sie schüttete ihr Herz aus und gewährte uns einen Blick auf ihre seelischen Wunden.
Jeder Autofahrer kennt das unangenehme Gefühl, einen Kratzer am Auto oder einen Unfall auf der Straße zu haben. Vor allem, wenn man etwas, das einem und seiner Familie zum Segen gedient hat, im Handumdrehen verliert und in den Tagen danach hilflos mit leeren Händen da steht – wer kann diese Wunden heilen? Bei manchen Autofahrern blieben die Autos unversehrt, doch kam dann jemand mit einem Maschinengewehr und hat brutal die Schlüssel gefordert und ist mit dem Fahrezug in eine unbekannte Richtung davongefahren. Der Fahrer konnte nur noch mit gesenktem Haupt nach Hause gehen und von Seiner Hilflosigkeit erzählen. Wunden gibt es überall, bei Frauen und Männern, bei Kindern und sogar bei bettlägerigen Menschen. Viele der bettlägerigen Menschen konnten am 23. Februar ihre letzten Medikamente kaufen. Doch der körperliche und seelische Schmerz lässt diese Menschen keine Ruhe. Über das Krankenhaus brauchen wir gar nicht zu reden, denn auch dort sind alle verwundet und brauchen Hilfe.
Mit dieser Art von Waffe wurden viele Hochhäuser und wichtige Gebäude zerstört.
Ein seelenloses Stück Metall hat in diesem Haus den gesamten Eingang herausgerissen und es in zwei Teile gespalten. Die Zahl der Todesopfer ist hoch, diese weinen nicht mehr. Doch ihre Angehörigen weinen, und ihre Wunden werden wahrscheinlich nicht heilen. Hunderte Freiwillige, Journalisten und andere Experten kommen an den Ort des Geschehens, machen Fotos, schreiben verschiedene Interviews und Berichte und wahrscheinlich denken nur wenige darüber nach, was wirklich in den Seelen der Menschen vorgeht, die ihre Häuser, Verwandten und Lieben verloren haben. Wie der Prophet sagt: “Von der Fußsohle bis zum Scheitel hat er keine gesunde Stelle: Wunden, Flecken, eiternde Wunden, ungereinigt und unverbunden und nicht mit Öl erweicht” (Jesaja 1,6). So ist es mit vielen Orten in der Ukraine.
Ein Stückchen Heilung brachten die Brüder Alexander Kotskalo und Pavel Khlebnikov durch ihre harte Arbeit. Die Küche der Nachbarin des Bethauses war durch eine Granate, die im Hof eingeschlagen ist, demoliert. Unsere Brüder renovierten sie.
Andere finden einen kleinen Trost in einem Lebensmittelpaket und kehren gerne an den Ort zurück, an dem sie vorübergehend Schutz gefunden haben. Manchmal rufen sie uns an und teilen uns ihre Freude darüber mit, dass die christliche Literatur in dem Paket ihnen Trost und Freude gebracht hat und dass sie es bereits durchgelesen haben und uns bitte, das nächste Buch geben. Gott sei Dank, dass die Menschen darin Trost und Linderung für ihre Wunden finden. Andere sind unendlich froh, dass die Stadtverwaltung endlich die Restaurierung ihrer Häuser in Angriff genommen hat. Vielleicht haben sie bis zum Winter Zeit, ihre noch nicht vollständig renovierte Wohnung zu beziehen. Dies wäre immer noch besser als das Leben in einem Zelt. Diese Freude kann jedoch schnell verfliegen, wenn ein weiterer Beschuss der Stadt die frisch errichteten Strukturen wieder zerstört. So findet die Angst weiterhin ihren Weg in das Herz der Menschen.
Wir wissen, dass diese vorübergehenden Ermutigungen notwendig sind, aber sie sind so kurzlebig, dass wir die Menschen auf eine Quelle hinweisen müssen, wo sie Seelenfrieden und ewiges Glück finden können. Zu diesem Zweck gehen wir in verschiedene unbewohnte Gebiete und auch auf die Baustellen, wo die Menschen um Brot bitten, aber viel mehr bekommen können. Um solche Orte zu besuchen, brauchen wir immer die Gebete der Kinder Gottes, ihre materielle Unterstützung und auch freundliche Worte der Ermutigung, die uns Kraft für unseren Dienst geben.
In der Stadt Izumé sind die Gemeinden sehr klein. In fast der gesamten Zeit vor dem Krieg gab es keine Evangelisationen, die Menschen lebten in Selbstzufriedenheit und Eitelkeit. Doch die Wunden des Krieges brachten die Menschen dazu, nach Trost und Hoffnung zu suchen. Als wir uns verabschiedeten, sagten sie herzlich: „Kommen Sie wieder, Sie haben uns so ermutigt. Sie leisten eine so großartige Arbeit. Wir hätten nicht gedacht, dass die Gläubigen eine solche Arbeit leisten, vielen Dank. Gott segne Sie! Möge Gott Ihre Autos, Ihre Familien, Ihre Häuser und Sie beschützen!”
Der 212. Tag des Krieges und jeder weitere Tag bringt Wunden und Schmerzen, Kummer und Leid
Nicht nur Granaten, sondern auch die militärische Ausrüstung traumatisiert und beeinträchtigt das Wohlbefinden der Menschen.
Wir erfuhren, dass diese junge Familie nicht mehr in ihrer Wohnung leben kann.
Der Schmerz lebt nicht nur unter denen, die Gott nicht kennen, sondern auch in den Herzen derer, die ihn lieben und ihm dienen.
Apostel Paulus schrieb in Galater 6,17: „Hinfort mache mir niemand weitere Mühe; denn ich trage die Malzeichen des Herrn Jesus an meinem Leib.“ Die Wunden, die durch den Dienst an Gott entstanden sind, zu tragen ist zwar nicht leicht, aber sie dienen uns zum Segen und Gott zur Ehre. Wie schwer ist es, in einer zerstörten Stadt zu leben, unter Beschuss zu schlafen, von Explosionen aufzuwachen. Doch diese seelischen Wunden sind notwendig, damit man anderen, die sich in der gleichen Situation befinden, von Jesus erzählen kann, der gesagt hat: “Siehe, ich bin bei euch alle Tage” (Matthäus 28,20). Thomas wollte seine Finger in die Wunden Christi legen und als er sie sah, fand er Glauben und Gnade. Die Wunden Christi sind für viele, die mit ihnen in Berührung gekommen sind, zu einem Heilmittel geworden. “…durch seine Wunden sind wir geheilt” Jesaja 53,5. So werden die Menschen in unserer Umgebung ermutigt und kommen mit zu den Gottesdiensten.
Als wir vor 26 Jahren das Bethaus bauten, kam es dazu, dass ich mich verletzte. Damit meine Wunden heilen konnten, brauchte ich treue Freunde, die mich ins Krankenhaus bringen oder mir vor Ort helfen konnten. Einige der Wunden waren tief und mussten genäht werden, andere waren kleiner und sind verheilt. Trotzdem blieben Narben. Ich bin Gott dankbar, dass diese Wunden im Dienst des Herrn passiert sind. Jedes Mal, wenn ich die Narben sehe, erinnere ich mich genau daran, unter welchen Umständen ich sie mir zugezogen habe.
Die heutige Zeit hinterlässt ihre Wunden, sie sind anders. Wahrscheinlich lassen sie sich nicht vermeiden, aber wie in der Vergangenheit, so danke ich auch heute dem Herrn von Herzen für meine Freunde, die tun, was sie können, um auch meinen Schmerz zu lindern. Ich staune über die Menschen, die Mittel und Wege finden, ihr „Öl“ auf unsere Wunden zu gießen, indem sie ihr Hab und Gut mit uns teilen. Ich lerne selbst viel von euch, liebe Brüder und Schwestern, die ihr mich in diesen sieben Monaten so freundlich unterstützt habt. Ich danke Gott nicht für den Krieg, aber ich danke ihm, dass ich in diesem Krieg Christus in seinen Kindern gesehen habe; in ihrer Aufopferung, in ihrer Bereitschaft, nicht nur materiellen Besitz zu teilen, sondern “sie haben sich zuerst dem Herrn hingegeben, [dann] auch uns nach dem Willen Gottes” 2 Korinther 8,5
Wir gehen in die Ewigkeit, wo Gott die Tränen derer abwischen wird, die geweint und den Schmerz erlitten haben. Möge Gott uns segnen, damit wir das Ziel erreichen. Er möge uns helfen, diese Last auszuhalten, zu ertragen, nicht zu fallen, nicht zornig zu werden und den Glauben und die Hoffnung zu bewahren.
In Liebe
Leonid Tkachev
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